Dunkelheit und Innenschau
In der Tradition unserer Vorfahren beginnt das neue Jahr nicht am 1. Januar, sondern zu Samhain, dem Jahreskreisfest der Dunkelheit und der dunklen Göttin. An All hallow`s eve, Halloween, hat sich die feurige, Leben spendende Kraft ins Innere der Erde zurückgezogen, und die Natur begibt sich zur Ruhe. Die Ernte ist eingebracht, die Vorratskammern sind hoffentlich gut gefüllt, während die Tage kälter werden und Mutter Erde die sterbenden Reste in ihren Leib zurücknimmt. Traditionell wird in der Nacht zum 1. November gefeiert. Im November regiert die Greisin, das alte Weib. Sie nimmt uns Lebende mit hinunter in die Anderswelt, die Welt der Toten und der Ahnen. Es ist die Zeit, in der Grenzüberschreitungen möglich werden. Der Vorhant zur Anderswelt ist jetzt so offen wie sonst nie im Jahr, und wir sind eingeladen, mit den Seelen, Vorfahren oder Geistern in Kontakt zu treten. Die ist symbolisch in den kirchlichen Ritualen noch zu spüren, wenn kerzenlichter auf die Gräber gebracht werden, um die Verstorbenen zu ehren.
Samhain ist die Gelegenheit für uns, bewusst die Dunkelheit zu suchen und die Übergänge in die Anderswelt zu finden. Stück für Stück sind wir eingeladen, die Angst vor der Dunkelheit, vor dem Vergehen allen Seins und die Angst vor Tod und Sterben zu verlieren. An Samhain ehren wir den Platz, den die Verstorbenen in unserem LLeben hatten und immer noch haben. Im Ritual werden wir spüren, dass wir mit allen verbunden sind, die vor uns waren, und dass diese aus lebendiger Energie bestehen. Jedes Jahr werden wir spätestens jetzt an diesen grauen, nebelvarhangenen Tagen an unsere eigene Vergänglichkeit erinnert und an die Angst, dass wir einst einfach in der Dunkelheit verschwinden könnten.
Warum feierten die Kelten diesen Zeitpunkt auch als Jahreswechsel? Vermutlich weil sie wussten, dass der Tückzug der Natur in den Bauch der Mutter Erde nicht das Ende des Lebens bedeutet, sondern dass nun vor unseren Augen verborgen, der Prozess des Lebens unter der Erde weitergeht. Dieser Wechsel außen – innen bedeutet zugleich einen Neubeginn im Sinne von Wiedergeburt, die nach einer Zeit des Abwartens im Frühjahr wiederkehrt. So ehren wir zu dieser Zeit die alte Greisin, die ihr Werk des Kompostierens und Vorbereitens neuen Lebens unter der Erde betreibt und uns im Frühling das neue wunderschöne Kind präsentierten wird. Wir müssen nichts dafür tun. Dieser Prozess geschieht von ganz allein. Unsere Aufgabe ist es lediglich, die Geduld und die Muße aufzubringen und nicht dort einzugreifen, wo es die Natur schon richtet. Jetzt ist nicht die Zeit für Aktivität und Antreiben, sondern Zeit der Innenschau und der weisen Erkenntnis, dass alles Wachstum im Dunkeln beginnt, so wie der Fötus im Mutterleib ohne Licht heranreift, um zu gegebener Zeit als fertiger Mensch ans Licht zu treten. Indem wir zu diesem Zeitpunkt das Vergehen ehren, holen wir bewusst das Thema Tod und Sterben aus der Verbannung zurück, den Teil in uns, den wir aus Angst abgespalten haben. Das Abschieben unserer Alten in Krankenhäuser und Altenheime zeigt, wie groß unsere Angst vor dem Prozess des Vergehens ist. Manchmal muss aber zuerst etwas sterben, damit anderes Leben entstehen kann.
Nutzen wir jetzt die Chance, Altes gehen zu lassen, um Platz für Neues zu schaffen. An unseren Ritualfeuern können wir altes, Belastendes bewusst verabschieden, auch die Angst vor unserem eigenen Tod. Wir haben die große Chance, unsere Trauer und unser Festhaltenwollen zu fühlen und anzunehmen, um danach das loszulassen, was dem Neubeginn entgegensteht. Unsere Ahnen werden uns jetzt helfen, zusammen mit der weisen Greisin loszulassen, was uns im alten Jahr immer wieder beschäftigt hat, zum Beispiel Wut, Groll, Neid oder Eifersucht auf die, denen es vermeintlich besser geht oder die uns ungerecht behandelt haben. Es ist Zeit, der dunklen Schwester zu begegnen und den Abstieg in die Unterwelt zu wagen.
Nehmen wir uns Zeit für uns selbst und genießen die langen Abende. Söhnen wir uns mit dem Alten aus und lassen wir gehen, was gehen will. Das Neue wird kommen, auch ohne unser Zutun.